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Der vergessene Glueckskeks

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kathuw66's avatar
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© Uwe Fengler






Der vergessene Glückskeks





Gestern habe ich bei einem Chinesen das Mittagsbuffet ausprobiert und nach dem Bezahlen einen Glückskeks erhalten. Da ich es eilig hatte, und auch satt war, verstaute ich ihn in meinem Rucksack – und vergaß ihn, bis zum nächsten Morgen.

Als ich meinen Rucksack schulterte und meine Wohnung verlassen wollte, fiel er mir wieder ein, der Glückskeks.

Also noch einmal zurück in die Küche, Rucksack auf einen Stuhl und Glückskeks raus holen. Die Verpackung war schnell geöffnet, ich zerbrach den Keks, schob mir eine Hälfte in den Mund, während ich den Text auf dem Zettel las:

„Sie erhalten heute ein Angebot, das sie nicht ablehnen können“

Dabei fragte ich mich, ob so ein Glückskeksspruch nur Gültigkeit hat, an dem Tag, an dem man ihn erhält, oder vielleicht an jenem, an dem man ihn öffnet.

Gleichzeitig hörte ich durch das geöffnete Küchenfenster meinen Bus auf der gegenüber liegenden Straßenseite abfahren.

Ich werde also zu spät zur Arbeit kommen.

Während ich das Treppenhaus hinunter rase, um nur nicht den nächsten Bus zu verpassen, schiebe ich mir die zweite Hälfte des Kekses in den Mund. Beim Kauen denke ich nur, dass dieses Gebäck viel zu süß ist.

Als ich an der Haltestelle ankomme, fährt ein paar Sekunden später der Bus vor.

Es gibt noch einen freien  Platz.
Ein Vierersitz, außen, entgegen der Fahrtrichtung. Neben mir eine ältere Dame mit verbissenem Gesicht, zwei leere Plastiktüten zusammengefaltet in den Händen. Wahrscheinlich werden sie am Mittag gefüllt mit Leergut sein. Mir gegenüber sitzt ein Mann mit dunklem Anzug, weißem Hemd und ordentlich gebundener Krawatte. Ständig knetet er seine Finger oder zupft an seinem Schlips herum. Vielleicht auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch.

Viel zu aufgeregt, um einen Job wirklich zu erhalten, denke ich, und viel zu fett. Wo lässt der nur diese Riesensakkos schneidern, von der Stange sind die sicherlich nicht.

Der Busfahrer gibt nun bekannt, dass er eine Umleitung fahren muss, um sein Ziel zu erreichen.
Er bittet um Verständnis und alle Haltestellen werden natürlich angefahren.

Nun staut sich der Verkehr. Eine Großstadt ist natürlich auf plötzliche Veränderungen nicht eingestellt. Hier muss alles schnell seinen Weg gehen.

Ich sehe auf meine Armbanduhr.
Ich kann nicht wissen, ob mein immer mehr nervöser werdendes Gegenüber pünktlich zu seinem Vorstellungsgepräch kommen wird.


Auf jeden Fall werde ich mit einer Verspätung von mehr als einer Stunde meinen Arbeitsplatz erreichen.


Darüber wird mein Chef nicht erfreut sein.

Ich suche in der Jackentasche nach meinem Handy. Anrufen könnte den Schaden vielleicht ein klein wenig begrenzen.


Mir fällt ein, das ich es beim Verlassen der Wohnung auf dem Küchentisch liegend gesehen habe.


So viel Pech kann man an einem Tag doch gar nicht haben.


Hätte ich nur diesen blöden Glückskeks nicht geöffnet, denke ich, als der Bus schließlich im Schritttempo  weiterfährt.

© Uwe Fengler
Comments1
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Hygroskopika's avatar
Ziemlich cool!

Nee, wenn jetzt da am Ende irgendwas Schnulziges passiert von wegen Glückskeks und Spruch und Weg zur Arbeit und doch pünktlich oder was, nee, dann isses vorbei, klischeehafter geht ja kaum! - Das dachte ich mir beim Lesen und war dann durchaus positiv überrascht, dass es nicht so kam ;)

Wobei man ja das Öffnen des Glückskekses an sich als Angebot interpretieren könnte, das das lyrische Ich nicht hatte ablehnen können... Aber das lass' ich jetzt lieber und freue mich über die schöne kleine Geschichte :)